google-site-verification=-UgRHQ8wj0fm7xzZB-RVR0oR456EBS1jG8-927xuFjk ZWISCHEN LOSLASSEN UND FESTHALTEN – ODER DAS GEHEN DER KLEINEN SCHRITTE
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ZWISCHEN LOSLASSEN UND FESTHALTEN – ODER DAS GEHEN DER KLEINEN SCHRITTE



Jedem von uns wurde wohl nicht nur einmal der Satz „Du musst loslassen“ gesagt. Und wahrscheinlich hat dabei jeder so ähnlich empfunden wie ich. Vor allem in der ersten Zeit nach dem Tod meines Kindes empfand ich solche Sätze wie Faustschläge, die mich brutal zu Boden warfen. Sie verhöhnten mich und mein Schicksal regelrecht, stachen in mein doch schon so blutendes Herz und erschütterten mich bis ins Mark. „DU MUSST…“ stark sein? Irgendwo Kaffee trinken oder unter Leute gehen? Nach vorne schauen? Weitermachen? Nicht aufgeben? Nicht wagen zu fühlen, ihm folgen zu wollen? Froh sein, da ich noch ein weiteres Kind habe? Mich eigentlich glücklich schätzen, da ich nun wissen könne, wie groß Gottes Liebe zu uns Menschen sei, da doch auch er seinen Sohn hergab? Es „abhaken“? … Loslassen??? All dies hörte ich immer wieder. Fausthiebe. Hart und unerbittlich. Und doch hatte ich nach keiner einzigen dieser Aussagen gefragt oder gebeten. Und so schrie jedes Mal alles in mir „Ich muss gar nichts!“

Nun sind bald sechs Jahre vergangen, seit mein Kind von uns ging. Sechs verdammt lange Jahre, die gleichzeitig unendlich lange her anmuten und doch als ob es gerade eben erst geschehen wäre. Während ich mich in den ersten zwei, drei Jahren dieses für mich nun anderen Lebens noch schuldig fühlte, den anderen nicht mehr gerecht werden zu können, ihre Erwartungshaltungen an mich nicht erfüllen zu können und nicht mehr so zu sein, wie sie mich kannten, hat sich nun vieles gewandelt. Ich kann ihnen vergeben. Sie wussten es nicht besser, handelten aus Hilflosigkeit und manchmal unüberlegt. Es tat so Manchen weh, meinen Schmerz zu sehen. Nicht wissend, wie sie mir helfen konnten. Während ich jeden Tag aufs Neue kämpfte diesen inneren Schrei auszuhalten, nur noch von Stunde zu Stunde weiterdachte da es außerhalb meiner Vorstellungskraft lag ewig so weiterzuleben, konnten sie nur hilflos danebenstehen.

Ich habe meine Schritte gemacht. Langsam, manchmal auch im Rückschritt, aber ich bin sie gegangen. Nein, ich muss nicht „loslassen“. Nicht mein Kind, nicht meine Liebe zu ihm, nicht meine Trauer. All dies wird mich immer begleiten, immer Teil von mir sein. Die gemeinsam erlebten Momente, diese kostbaren Schätze, sie werden immer Teil von mir sein. Ich muss sie nicht loslassen. Sie streicheln meine Seele, auch wenn die Erkenntnis, dass keine neuen Erinnerungen dazukommen werden, furchtbar schmerzt. Ich konnte diese Schritte meistern, da wertvolle Menschen an meiner Seite sind. Familie da ist, die versucht Verständnis aufzubringen, selbst wenn sie einmal einen Schritt von mir nicht ganz verstehen kann. Es sind Menschen, die das Vertrauen in mich haben, selbst wenn ich zweifle. Ich bin dankbar dafür. Und auch dankbar dafür, so vielen wertvollen Menschen begegnet zu sein, die ähnliches erlebt haben. Dankbar dafür, so tolle Mitglieder in unserem Verein zu haben. Jeder davon einzigartig und voller individuellem Potential. Dankbar dafür, Menschen zu begegnen, die unsere Arbeit als wichtig empfinden und uns in verschiedenster Weise unterstützen. Dankbar den Menschen, denen wir etwas zurückgeben können. Etwas Hoffnung, etwas Zuversicht, Hilfe und Verständnis. Wohl hat mir all dies dabei geholfen, einen weiteren Schritt anzugehen.

Nicht nur einmal hatte ich den Versuch gestartet mich von persönlichen Dingen meines Sohnes zu trennen. Es ging immer nur in ganz, ganz kleinen Schritten über inzwischen einige Jahre. Und oft versagte jeder Versuch kläglich. Was ist mir wichtig, was ist von Bedeutung, was darf bleiben, was darf weg? Sicherlich ist bei all den Versuchen ein kleiner See voller Tränen entstanden. Ja, auch das darf sein. Loslassen tut weh. Ich weiß inzwischen, dass ich Gegenstände loslasse. Dinge, zu denen ich keinen oder nur bedingt einen Bezug habe. Ich lasse dadurch nicht mein Kind los, nicht meine Liebe zu ihm. Wie könnte das auch jemals sein? Es hat nun fast sechs Jahre gedauert, den Mut zu fassen, das schwere Unterfangen anzugehen und mich von Dingen zu trennen. Nicht von allem. Es darf sorgfältig abgewogen werden, was bleiben soll. Ich weiß nicht, ob ich schon so weit wäre oder es noch weiter vor mir hergeschoben hätte, wäre nicht die Zeit wie sie jetzt ist. TREES of MEMORY e.V. wächst. Und dadurch auch die Anzahl der Ordner, Unterlagen, Gegenstände für die Öffentlichkeitsarbeit und Lektüren. Ebenfalls wächst für mich die Anzahl an Online-Veranstaltungen. Haben wir schon von Beginn an unsere Vorstandssitzungen immer per Videokonferenz, kommen durch die Pandemie und ebenfalls dem Wachsen des Vereins noch weitere digitale Veranstaltungen und Meetings hinzu. Auch die Teilnahme an Seminaren und Schulungen sind auf diese Weise möglich. Bisher nutze ich das Gästezimmer als Rückzugsort für Meetings. Schriftliche Unterlagen nehmen inzwischen viel Raum im Esszimmer in Anspruch. Gegenstände für die Öffentlichkeitsarbeit mit Infostand usw. nehmen Platz in gleich drei Räumen des Hauses ein, jeweils ein bisschen davon dort überall verteilt. So ist nun wohl die richtige Zeit. Das Zimmer, welches mein Sohn bis zum Ende seiner Ausbildung bei uns bewohnte, beherbergt all seine Habseligkeiten neben Dingen des Vereins und meiner Bastelartikel. Es bekommt eine neue Bestimmung. Das bedeutet, dass komplett umgestaltet wird. Mit Austausch des Dachfensters (ich gebe zu, dass dies mit Auslöser ist, die Renovierung nun anzugehen), neuen Tapeten, neuem Bodenbelag. Was voraussetzt, dass der Raum leer sein sollte. Zuerst konnte alles außer den Dingen meines Sohnes rausgeräumt werden. Problemlos. Seine Sachen konnte ich zuerst nur von einer Seite auf die andere schieben, als ich die alten Tapeten entfernte. Nun, da ich mich an das Rausreißen des Bodens gemacht habe, konnte ich seine Kisten in andere Räume zwischenlagern. Nein, all dies ging nicht ohne Tränen. Es ging nicht ohne die inneren Schreie. Aber es ging. All dies ist ein Prozess. Ich brauche Geduld mit mir selbst, genügend Pausen, um wieder zu atmen und um Kraft zu tanken. Es strengt nicht nur körperlich, sondern auch mental an. Schritt für Schritt, in meinem eigenen Tempo, wird dieser Raum Gestalt annehmen. Und wird dann als Büro genutzt werden, so dass Esszimmer auch wieder Esszimmer wird und nicht als Büro dienen muss. Sicherlich wird einiges von meinem Sohn mit in das Büro einziehen und dort seinen Platz finden. Manches wird sich meine Tochter aussuchen und zu sich nehmen. Von manchem werden wir uns ganz trennen. Und das ist gut so. Ich weiß, ich muss ihn nicht loslassen. Dennoch kann ich meine Schritte gehen. Langsam, aber fühlbar. Mit den Menschen an der Seite, welche ich liebe und mag und die mir den Rücken stärken, und mit meinem Sohn im Herzen. Ich lasse los, was ich loslassen kann und halte fest, was mein Herz braucht.



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