Verletzt, Versehrt und doch versöhnt
- Iris
- 3. Mai
- 5 Min. Lesezeit
Text von Sonja

„Wie geht`s dir?“, wollte eine Freundin wissen.
Ihr Interesse war von einem besorgten Unterton begleitet. Sie fragte, wie ich klarkam, jetzt, wo mein Vater verstorben war und ich mit meiner Mutter als kleine Restfamilie zurückblieb. Meine Freundin wollte nicht nur wissen, was alles zu erledigen und organisieren war, sie wollte wissen, wie ich mich fühlte. So kamen wir, mal wieder, auf meinen Bruder zu sprechen. Fast sechs Jahre ist sein Suizid mittlerweile her.
Nun, ich hatte geantwortet: „Es geht mal besser, mal schlechter. Mal fehlt er mir. Dann wieder bin ich dankbar, dass er immerhin mehr als 50 Jahre mein Fels in der Brandung gewesen war.“
Ihre Frage ließ mich jedoch nicht mehr los. Denn wenn ich ehrlich bin, weiß ich manchmal gar nicht wie ich mich fühle. Ich spüre nicht immer in mich hinein. Manchmal bin ich froh darüber nichts zu fühlen. Nicht die überschwängliche Freude, aber auch nicht den unerträglichen Schmerz. Nicht den Stolz, aber auch nicht die Schuld. Nicht die ausgelassene Heiterkeit aber auch keine Trauer. Bin ich kalt geworden? Leer, ausgepumpt, abgestumpft? Oder habe ich ein neues Level an Ausgeglichenheit und Gleichmut erreicht?
Mit diesen Fragen im Kopf spazierte ich zum nahegelegenen See. Der Auwald schützte vor den böigen Winden. Das tiefblaue Wasser glitzerte, als hätte man Kristallscherben drauf verstreut. Der Wind bauschte das funkelnde Wasser zu rauschenden Wellen, fast wie am Meer. Wildgänse schnatterten und fauchten, wenn ich ihren Jungen zu nahekam. In der Mitte des Sees türmte sich eine Insel mit Totholz auf. Dort stolzierte ein Kormoran mit ausgestreckten Flügeln. In Zeitlupe drehte er sich. Zeigte sich von jeder Seite.
„Habt ihr mich auch alle gesehen?“ schien er zu fragen. Da stand plötzlich wie von der Sonne eingebrannt, in großen Lettern dieses Wort auf seinen braunschwarz geschuppten Flügeln.
Versehrt.
Woher kam jetzt dieser total veraltete Begriff? Ein Wort, das ich nur im Zusammenhang mit Kriegsheimkehrern kannte. Ich dachte dabei an Männer, die ohne Arm oder Bein nach Hause gekommen waren. (Ich hoffe, es wird nie wieder passieren, dass uns dieses Wort geläufig sein wird.)
Hat es also nicht längst seine Bedeutung verloren? Wie sehr ich mich auch von diesem Wort lösen wollte, es fühlte sich so stimmig an. Es passte zu mir wie die Wasservögel zu unserem See.
Zu Hause schlug ich die Bedeutung des Wortes nach.
Es bezieht sich auf eine Person, die dauerhaft behindert ist. Das Wort existiert seit dem 9. Jahrhundert. Versehrt verwendet man meist in Verbindung mit dem Adverb: sehr oder schmerzhaft.
Ist der Verlust eines Angehörigen eine dauerhafte Behinderung?
Der Tod meines Vaters ist noch nicht lange her. Ich weiß, ich werde um ihn trauern, länger vielleicht als die Gesellschaft mir zugestehen wird (er war ja schon 84 Jahre, betonen manche Menschen und wollen damit wohl ausdrücken, ich hätte gar keinen Grund zu trauern). Aber ich weiß auch, dass er mir keine dauerhafte Wunde hinterlassen wird.
Der Suizid eines geliebten Menschen jedoch ist eine bleibende Verwundung, eine lebenslange Verletzung!
Wir haben zwar noch alle unsere Gliedmaßen – äußerlich mögen wir intakt sein. Aber haben wir nicht alle viel schlimmere innere Wunden? Das Loch im Herzen, das ein Kind hinterlässt? Fühlt es sich nicht so an, als hätten wir einen Teil der Lunge verloren, denn manchmal fehlt uns einfach die Luft zum Leben? Handelt es sich nicht auch um einen Phantomschmerz, wenn der Bruder, die Schwester fehlt?
In den ersten Jahren nach dem Suizid meines Bruders hatte ich noch gehofft, ich werde keine dauerhafte Wunde davontragen. Ich gehe durch all die Trauer und den Schmerz. Ich stelle mich meinen Gefühlen, aber ich werde meine Verletzung heilen. Keinesfalls wollte ich mein Leben lang gezeichnet sein. Gezeichnet von und durch die Tat meines Bruders. Erst als ich begriff, dass die Wunde bleiben würde – dauerhaft – erst dann floss mir neue Kraft zu. Ab diesem Zeitpunkt konnte ich mich um meine Wunde kümmern und musste nicht mehr dagegen ankämpfen. Ich musste „nur“ lernen gut damit umzugehen. So, wie ein anderer eben lernen muss mit seiner Prothese zu leben. Ich durfte erfahren, dass die Akzeptanz meine Schmerzen linderte. Noch hilfreicher war es als ich mich mit meinem Bruder und seinem Suizid aussöhnen konnte. Im Einverstanden sein mit meiner Verletztheit begann tatsächlich eine Art Heilung. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Wunde nicht immer mal wieder besonders schmerzhaft zu spüren ist. Denn: Es ist ein Trauma und die Empfindungen dazu sind nicht vergleichbar mit normalen Todesfällen.
Ich will meine Versehrtheit nicht wie eine Monstranz vor mir hertragen. Ich will auch keinen Ausweis, keine Vergünstigungen und schon gar kein Mitleid. Doch wünsche mir manchmal mehr Verständnis, mehr Aufklärung über unsere Art von Schmerz. Es schmerzt, einen geliebten Menschen durch Suizid verloren zu haben. Es schmerzt noch mehr, wenn man den eigenen Schmerz erklären oder gar rechtfertigen muss. Und es lässt einen verstummen, wenn man hört: „Aber es war doch freiwillig!“
Jeder wird verstehen, dass man beim Gehen eingeschränkt ist, wenn man eine Prothese trägt. Dass die Prothese schmerzen und drücken kann, je nach Wetterlage, auch wenn sie noch so gut angepasst ist. Jeder kann nachvollziehen, wie schmerzhaft es sein muss nicht „ganz“ durchs Leben gehen zu können. Es braucht viel Übung, viel Unterstützung und Verständnis, wenn man irgendeine Art Handicap hat.
Auch unsere Wunden machen sich immer wieder zu bestimmten Zeiten äußerst schmerzlich bemerkbar. Jahrestage, Geburtstage, Weihnachten oder das vergangene Osterfest. Niemand weiß, wie es sich anfühlt, wenn das eigene Kind den 18. Geburtstag nicht erleben darf. Wenn man Jahrestage feiert, die so gar nichts mit feiern zu tun haben. Den 10. Hochzeitstag ohne den Ehemann, den 60. Geburtstag des Bruders?
Warum muss ich eigentlich erklären, wie ich mich fühle? Und insgeheim impliziert die Frage wohl: Jetzt muss es dir doch schon viel besser gehen, nach der langen Zeit. Würde man den Mann im Rollstuhl jemals danach fragen? Wie fühlst du dich? Jetzt ist es schon so lange her? Oder lapidar sagen: Die Zeit heilt alle Wunden!
Versehrt - vielleicht verlangen wir auch zu viel von uns selbst? Sind wir nicht mit uns selbst ungeduldig, wenn wir mal wieder „in ein Loch“ fallen? Wenn es uns immer noch nicht gut geht? Wenn es statt bergauf erneut ins Tal der Tränen geht?
Meinen wir nicht, dass wir doppelt so viel Kraft aufbringen müssen, jetzt wo die Eltern doch schon ein Kind verloren haben? Eltern wiederum glauben, sie dürfen ihre Trauer vor den Kindern nicht zeigen. Den Kollegen darf man sich nicht zumuten in all dem Schmerz.
Wie einfach wäre es dagegen, wenn wir sagen könnten: Heute habe ich einen schlechten Tag. Heute schmerzt der Verlust ohne Angst vor den ungeduldigen, unverständlichen Blicken zu haben? Blicke, die sagen: „meine Güte: noch immer oder schon wieder so traurig.“ Wie wohltuend wäre stattdessen eine stumme Umarmung, ein mitfühlendes Wort?
Nun, vielleicht sollten wir uns so behandeln, wie wir es uns gerne wünschen. Zeigen wir Verständnis für uns selbst. Akzeptieren wir unsere Verletztheit. Versöhnen wir uns damit, dass wir ab und zu Hilfe benötigen. Gönnen wir uns Natur und Stille als hilfreiche Stützen. Wir dürfen erfahren, dass weniger manchmal mehr ist. Die Schwere des Lebens lehrt uns was wirklich wichtig ist: Freude, Freunde und Familie. Wer Schlimmstes durchlitten hat, kann tiefes Mitgefühl und Verständnis entwickeln, kann eine Weisheit im Herzen erfahren, die Unversehrten oft fehlt.
Ob wir es versehrt nennen, verletzt, verwaist oder ganz anders. Vielleicht wollt ihr eure Verwundung mit einer Blume mit einem Schmetterling oder einem glitzernden Kristall vergleichen. Die bittersten Stunden aber auch die kostbarsten Erinnerungen sind darin verborgen.
Wir mögen gezeichnet sein, aber wenn wir lernen damit umzugehen erfahren wir eine Tiefe im Leben, und erkennen darin die Fülle.
Üben wir also geduldig jeden Tag aufs Neue mit dieser Verwundung zu leben.
Leben wir für und mit dem der fehlt.

留言