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TREIBSAND UNTER DEN FÜSSEN – ODER WENN WIEDER MAL CHAOS IM KOPF IST…

Text von Iris




Es fällt im Moment gar nicht so leicht, einen richtigen Anfang zu finden. Seit Wochen (oder sollte ich eher sage seit Monaten?) habe ich in mir drin wieder das Gefühl, mich in einem Strudel zu befinden. Im Strudel der Gedanken, der ins Abwärts gerichtet ist. Der jeden noch so kleinen und wertvollen bereits geschafften Schritt ins Nichts auflöst. Saltos rückwärts schlagend, und zwar in gefühlter Überschallgeschwindigkeit.

Und jetzt steh ich hier…. Knapp neuneinhalb Jahre nach dem „Tag X“, an den mein Sohn diese Welt verließ. Mich immer wieder krampfhaft versuchend daran zu erinnern, dass ich doch eigentlich schon (für mein Empfinden zumindest) aus dieser Explosion meiner Selbst von damals irgendwie ein gutes Stück zurück ins Licht und ins Hier und Jetzt geschafft hatte. Gefühlt ist an manchen Tagen davon wenig übrig, von diesem „Ich bin hier, ich habe meinen Weg gefunden“…

Ich besitze die Fähigkeit, mich doch ganz gut reflektieren zu können, denke ich. Und so ist mir auch klar, woher dieser Zustand, dieses Erleben und Fühlen gerade herrührt. Verkopft und analytisch weiß ich es zu benennen. Gefühlt stürzt es mich dennoch in ein absolutes Chaos.

Doch zurück zum Anfang…

Ich bin überzeugt davon, dass die allermeisten von Euch, die einen Verlust durch Suizid zu bewältigen hatten (oder sollte ich besser sagen „haben“, weil die Bewältigung eventuell nie ganz abgeschlossen sein kann? Ich weiß es nicht…) genau dies nachvollziehen und nachfühlen können. Etwas zerbricht in einem. Dieser Cut ist da, und schleppt so viele unterschiedliche Dinge mit sich, dessen wir uns nie gewappnet fühlten. Explosionsartig. Plötzlich poppen Gefühle auf, Chaos so noch nie erlebt, Millionen von Splittern, die dann Jahre benötigen, und irgendwie wieder als halbwegs Ganzes zusammengekittet werden müssen. Risse bleiben. Lücken bleiben. Wir sind gezeichnet. Alles scheint fragil. Manchmal braucht es nicht viel, dass einer oder mehrere dieser Splitter, weil der Kitt an diesen Stellen noch immer nicht genug Härtung erlebt hat, wieder aus dem ganzen eigenen System fällt.

Und genau das ist passiert. Der Kitt bröselt. Fällt raus. An mehreren Stellen gleichzeitig. Hatte ich doch mehrere Sicherheitsnetze über die Jahre gespannt, die alle zugleich den sicheren Halt gewährleisten konnten falls einmal eines davon löchrig werden würde, schienen sie alle gefühlt zur selben Zeit gerissen. Wie gesagt, gefühlt. Denn die, die noch da waren bzw. sind, scheinen außerhalb des eigenen Fokus. Das „Hand ausstrecken“ nach ihnen für mich zu schwierig, viel Kraft kostend.

Da hatte ich doch tatsächlich krampfhaft, verbissen und kräftezehrend so wichtige Bausteine und Lichtblicke, Aufgaben und wieder Sinn gebende Dinge in mein Leben verankern können. Und plötzlich schien all das als nichts mehr, was den Fall aufzuhalten schien. Zu viel auf einmal brachte mich ins Schleudern.

Für viele Jahre hatte ich in ToM, in all dieser Arbeit, meinen Lebenssinn gefunden. Darin das Gefühl erlebt, dass Kevins Tod zumindest nicht ganz ohne einen gewissen wertvollen Nachlass gewesen ist. Was ich dabei außer Acht gelassen hatte, war der Rückzug aus meinem früheren Leben, welches es so ja nicht mehr gab. Durch die Arbeit mit und bei TREES of MEMORY e.V. konnte ich all das kompensieren. Den Rückzug aus dem sozialen Umfeld, den ich beschritt ab dem Tag, als mein Kind starb. Zweieinhalb Jahre lang ging ich diesen Weg so… weg von den Dingen, die früher meine Freizeit ausmachten. Immer seltenere Besuche auf den Fußballplätzen, die zuvor den Sonntagnachmittag ausmachten. Weg von dem gediegenen Small Talk, dem Lachen, dem Gefühl, zugehörig zu sein. Dann fand ich TREES of MEMORY und konnte all das ein wenig ausgleichen. Weil ich ja in Kontakt trat mit er Außenwelt… nur eben noch nicht im direkten Umfeld mit all denen, wo das früher reibungslos funktionierte.

Sein Tod löste so vieles in mir aus. Vor allem den Rückzug vor der Welt und dem Leben. Plötzlich behaftet mit diesem Gefühl, ein Mal auf der Stirn zu tragen, imaginär feuerrot leuchtend für alle sichtbar. Gebrandmarkt. Hier, die Mutter, die ihr Kind verlor-. Deren Sohn nicht mehr leben „wollte“…. Spürbar für mich die erschrockenen, sprachlosen Blicke der anderen. Das Mitleid…. In den Gesichtern der anderen. Und mehr und mehr zog ich mich zurück. Einkaufen oder Friseurtermine in anderen Städten der Umgebung. Weil plötzlich alles Überwindung kostete. Das Einkaufen. Der Besuch beim Friseur. Die Arbeit. ALLES…. Außer dann, wenn ich meine Rettungsanker um mich hatte. Rettungsanker vor allem in Form von einigen Menschen, bei denen ich äußern durfte, was ich fühlte. Wo all das gespielte Starke, welches nun den dreifachen Kraftaufwand bedeutete, um diese Stärke nach außen zu zeigen, nicht nötig war. Wo ich mich auch in zerbrochenem Zustand zeigen durfte. Ich brauchte meist jemanden an meiner Seite, der mich mitzog. Ein Auge auf mich hatte. Dessen Gegenwart ich mir bewusst machen konnte. Und oh, wie oft fühlte ich mich auch dabei als Zumutung, als Ballast für meine Mitmenschen… als wertlos, weil ich nicht mehr die war, die alle kannten. Wo war sie hin, die Frau, die alles managen konnte, die selbstständig alles allein im Griff hatte und gefühlt auf niemanden angewiesen war? Die mitten im Leben stand und alle vorherigen Schicksalsschläge doch irgendwie gemeistert hatte? Sie war verschwunden…  nicht mehr greifbar.

Erst ToM führte mich zurück ins Leben. Nach und nach gelang es mir auch wieder, „ums Eck“ einzukaufen, selbst wenn es manchmal zu Beginn krampfhaft mit dem Blick nur auf die Regale gelang, damit ich nicht Gefahr lief, von jemandem angesprochen zu werden, den ich kannte. Und manchmal ging es sogar noch besser. Vieles hatte sich verändert in den ersten Jahren nach seinem Tod... TREES of MEMORY machte mich mutiger, machte mich stärker. Durch diese Arbeit konnte ich mich gebraucht fühlen, wo ich sonst inzwischen das Gefühl der Wertlosigkeit in mir trug. Ich konnte etwas TUN. Etwas Wertvolles für andere. Mein Leben hatte wieder einen gewissen Sinn. Hier fand ich meine Stärke zurück. Mit anderen zu kommunizieren. Für andere da zu sein. Ich wuchs an mir selbst. Und an meinem Schicksal. Auf diesem Terrain fühlte ich mich inzwischen sicher. Psychische Einschränkungen, suizidale Gedanken oder Suizidalität, damit seit Jahren befasst und eingearbeitet in die Materie (zum Teil aus eigenem Erleben) wusste ich immer, wovon ich da rede. Was ich kommunizieren würde. Es gelang ohne Ängste selbst vor größerem Publikum. Fühlte sich irgendwann selbstverständlich an. Dadurch, dass ich nur noch bedingt und in ganz kleinem Rahmen die ganz alten Kontakte pflegte, fiel mir gar nicht auf, wie sehr der Abstand zu allem anderen wuchs. Aber es genügte mir auch so. Ich fühlte mich so sicherer.

Tja, dann kam plötzlich Anfang des letzten Jahres meine Welt wieder extrem ins Wanken. Die eigenen Wege der Trauer schienen so unterschiedlich begangen zu sein, dass sie immer mehr Entfernung zwischen meinem Mann und mir geschaffen hatten. Wir den Zeitpunkt übersehen hatten, an dem eine Annäherung erfolgreich genug gewesen wäre, um eine neue Basis der Beziehung zu gestalten. Wir hatten es versucht. Beide. Es zog mir lange den Boden unter den Füßen weg. Wieder einmal. Nahm mir das bisschen Gefühl der Sicherheit, welches ich mir über die Jahre erhalten konnte. Wieder einmal die Suche nach mir selbst… wie mein Leben nun gestalten? Dass ich allein mit allem klarkommen würde, wusste ich. Doch dieses Wissen hatte nicht verhindert, dass plötzlich immer mehr der alten Baustellen aufbrachen, die ich in mir trage. Plötzlich erfuhr ich wieder viel intensiver und selbst in eigentlich unscheinbaren Situationen, wie mich die Verlustangst packte. Ohne diese zuerst benennen zu können. Plötzlich zweifelte ich wieder unheimlich an mir selbst. An meinem Wert. An meinem Können. An… allem. Die innere Einsamkeit wieder viel stärker spürend.

Es gelang mir nach und nach, vereinzelt bei manch anderen Menschen Vertrauen zu gewinnen. Mich zu öffnen. Es gelang mir, intensiver zu schauen, was mir guttut. Und manches konnte mir tatsächlich auch wieder mein Strahlen ins Gesicht zu zaubern, welches aus meinem Inneren kam. So, wie viele Jahre lang nicht mehr. Doch Kleinigkeiten reichten, um mich immer wieder erneut aus der Bahn zu werfen. Irgendwann schienen es zu viele „Kleinigkeiten“ auf einmal, so dass ich mich im Treibsand befand. Zu viele Baustellen auf einmal. Zu viele Unsicherheiten. Und noch nirgends eine Lösung in Sicht. Es begannen die Saltos rückwärts. Überfordert fühlen, wertlos fühlen, Verlustängste spüren, die innere Einsamkeit intensiver wahrnehmend. Panikattacken kamen plötzlich wieder, die ich dachte bereits einige Jahre hinter mir gelassen zu haben. Tinnitus und das Stechen in der Brust, Magenschmerzen und unendliche Erschöpfung spürend. Erneuter Rückzug war zuerst der einzige Weg, um dem halbwegs aus dem Weg zu gehen.

Dann kam der Zeitpunkt, an dem ich merkte, dass ich allein aus diesem Strudel nicht mehr rauskomme. All das, was ich über Jahre erlernte, nicht mehr bei mir anwenden kann. Und es auch für mich ein NoGo ist, denen, die mir nahestehen, dies alles auf deren Schultern allein zu verteilen. Auch wenn mich das glücklicherweise vor dem bodenlosen und harten Fall immer wieder auffangen konnte. Er sanfter ausfiel dank deren Hilfe. Mir wurde bewusst, nun geht nichts mehr ohne professionelle Unterstützung. Die Phase dauert bereits zu lange an, um nur ein „kleines Tief“ zu sein, aus dem ich mich selbst wieder befreien kann.

Ich denke, dass all die Zeit der Arbeit bei TREES of MEMORY mich da hat feinfühliger werden lassen, was meine eigene Selbstfürsorge angeht. Es mir vor vielen Jahren vorgekommen wäre wie ein zusätzliches Versagen, nun aber nur als logischer Schritt und Konsequenz erscheint. Achtsam mit meiner Seele umgehen, das kann ich inzwischen deutlich besser.

Ich möchte meinen Weg wieder finden, der sich nicht als anstrengender Marathon anfühlt wie im Moment, sondern wieder gepflastert ist mit guten Momenten, die ich aufsaugen kann, so wirklich und richtig. Davon zehren kann. Nicht nur als „joups, das ist jetzt mal okay gewesen“ anfühlt und gleich wieder verschwunden ist wie in den letzten zwei drei Monaten.

Der Energiespeicher leert sich viel schneller als er aufgefüllt werden kann. Und das seit vielen Monaten. Im Arbeitsleben, im Privaten, auch bei der Vereinsarbeit. Zeit also, etwas dagegen zu tun. Denn wie sagte unsere Sonja letztens zu mir am Telefon: „ Du warst immer der Motor des Vereins. Und der stottert jetzt gewaltig.“ Ein anderer mir sehr nahestehender Mensch nannte es dann Motorschaden… wahrscheinlich ist es das gerade auch.

In unserem Verein gibt es viele, und jeder ist wertvoll. Der Motor des Vereins möchte ich nicht einmal sein. Denn alle bringen ihren wichtigen Teil, ihr Können und Wissen ein. All dies macht das Ganze. Wieder „rund laufen“ um meinen Teil beitragen zu können zu dem Ganzen, das ist mein Ziel.

Mir tut die Arbeit bei ToM noch immer gut. Und ich möchte sie nicht missen. Anders als früher benötige ich im Moment jedoch als Gegenstück die Momente der Leichtigkeit, des Lachens, des Leben Spürens umso mehr. Ich kann sie jedoch zeitweise gar nicht, und wenn, dann nicht in dem Ausmaß für mich gestalten und wahrnehmen, wie es nötig wäre. Es wird Zeit brauchen und viel Arbeit an mir selbst kosten, die ich nun nach vier Jahren Pause wieder mit professioneller Hilfe angehen werde, um an diesen Punkt zu kommen, wo es möglich sein wird diese Leichtigkeit wieder zu spüren. Ich muss die Türen zu mir selbst wieder öffnen und schauen, was sich dahinter verbirgt…

Es war nun ein langer Text, ich weiß. Falls Ihr ihn bis hierher gelesen habt, dann danke ich Euch dafür. Mag sein, dass man nicht klar erkennt, was ich damit zum Ausdruck bringen möchte. Aber vielleicht gibt Euch das die Antwort, solltet Ihr Euch gefragt haben, warum es auf unserer Seite hier etwas ruhiger die letzten Monate war.

Nun kurz nochmal in ein paar Worten zusammengefasst. Wir alle sind für uns selbst verantwortlich. Dass es uns einmal nicht gut geht, wir in einem Tief stecken, ist vollkommen okay. Das passiert. Und auch wenn wir uns einmal wertlos fühlen, nur kurz oder über einen längeren Zeitraum: wir dürfen und sollten es uns immer wert sein, um den Schritt zu gehen, uns Hilfe zu holen, wenn wir aus dem Strudel nicht mehr herauskommen. Denn auch wenn wir denken, nicht wichtig zu sein: irgendwo da draußen gibt es Menschen, denen wir wichtig sind. Wir DÜRFEN uns selbst wieder wichtig werden. Weil wir alle unseren Platz auf dieser Welt haben, selbst wenn wir ihn zwischendurch gar nicht mehr sehen. Er ist da. Und wartet darauf, wieder von uns entdeckt zu werden.

everyone matters…

in diesem Sinne, seid achtsam mit Euch selbst.



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