IM FLUSS DER ZEIT – ODER DIE ANDERE ZEITRECHNUNG
Man liest so häufig, dass sich durch solch einen Verlust das eigene Leben in eine Zeitrechnung von „Davor“ und „Danach“ wandelt. Es ist tatsächlich so. Die Zeit scheint davonzufließen, an mir vorbei. Vielleicht hat es generell etwas mit dem Älterwerden zu tun. Dass Zeit so relativ erscheint. Aber nicht nur... es fällt mir immer wieder dann auf, wenn ich mich daran erinnere, dass ich ja einen Termin ausmachen müsste. Also ganz privates Zeugs wie Arzttermin zum Beispiel. Und ehe ich mich versehe ist viel mehr Zeit verronnen als ich dachte. So war ich der Meinung, eine Untersuchung wäre Anfang 2019 vorgenommen worden. Nächste Kontrolle hätte drei Monate später passieren sollen. Als es mir dann nun endlich gelang den Termin dafür fix zu machen, stellte sich heraus, dass diese erste Untersuchung bereits Mitte 2017 war. Also wurden aus drei Monaten fast drei Jahre…
So ähnlich geht es mir mit vielem. Mein Zeitgefühl passt nicht zur Realität. Dachte ich doch vor langer Zeit, dass ich noch viele gute Jahre vor mir liegen habe, so blieb ab dem 23. März 2015 die Welt erst einmal stehen. Der Abgrund tat sich auf und ich konnte mir lange nicht vorstellen, das auf Dauer zu überleben. Jeder einzelne Tag glich einem Kampf mit mir selbst, die Zeit ohne mein Kind eine Horrorvorstellung, die Realität geworden war. Und doch sind nun schon fast fünf Jahre vergangen. Fünf lange Jahre, die mir manchmal wie Tage vorkommen. Das Vermissen ist so groß wie am Tag X, die Sehnsucht nach ihm, der Schmerz in meinem Herzen. Er ist tagtäglich in meinen Gedanken, auch wenn die allerwenigsten um mich herum überhaupt noch über ihn sprechen. Die Zeit bremst mich aus. Ich sehe seine Cousinen und Cousins, Freunde und Kollegen, wie sie neue Wege einschlagen. Heiraten, Kinder bekommen, eben alles, was für junge Menschen üblich ist. Seinen Weg gibt es nicht mehr. All dies wird er selbst nicht mehr erleben. Und ich nicht mit ihm.
So fließt die Zeit langsam an mir vorbei, die Zeitrechnung „Danach“ ist in Slow Motion. Im Hier und Jetzt zu sein ist manchmal ganz schön anstrengend, da man immer auf der Suche ist. Nach eigenen, neuen Wegen, nach Möglichkeiten der Verarbeitung, nach der Kraft, den Alltag zu meistern. Es benötigt immer wieder Auszeiten, um Reserven auffüllen zu können.
War es mir vor knapp fünf Jahren und lange Zeit danach unvorstellbar, wie ich weiterleben sollte, älter werden und weitermachen kann, stehe ich heute hier und es ängstigt mich nicht mehr. Ich habe diese Jahre überlebt. Und jedes weitere Jahr bringt mich unweigerlich näher zu meinem Sohn, da ja keiner ewig lebt. Das bringt mir irgendwie inneren Frieden. Von der eigenen Todessehnsucht ist die tiefe Sehnsucht nach ihm geblieben. Aber ich kann inzwischen das Leben „Danach“ annehmen, mit seiner ganz eigenen Zeitrechnung. Ich kann wieder Momente erleben, die mir Zufriedenheit schenken. Momente, in denen ich mich wohl fühle und auch geborgen. Habe ich mich seitdem wieder einmal glücklich gefühlt? So richtig nicht. Wenn, dann mit furchtbar angezogener Handbremse. Meine Erwartungshaltung an das Leben hat sich gewandelt. Ich suche nicht das Glück, ich suche die innere Ausgeglichenheit. Die Zufriedenheit und die Wohlfühlmomente. Wenn dies dann eintritt, ist es gut. Und wertvoll, weil nichts im Leben selbstverständlich ist. Ich bin dankbar für solche Momente. Und auch dafür, in etwas einen Sinn gefunden zu haben, weiterzumachen. Die Arbeit mit TREES of MEMORY e.V. , die Menschen in unserem Verein, das ist mir wichtig. Und hilft mir dabei, nicht aufzugeben. Wieder einen Sinn finden, in der Zeit „DANACH“… das ist es, was solch ein Schicksalsschlag erfordert. Und ich bin dankbar für meine Familie, die meinen Weg versteht und ihn mich gehen lässt, mich auch dabei begleitet und unterstützt. Denn ohne meine Familie wäre ich nichts. Sie erden mich, sie fangen mich auf, wenn der Boden unter meinen Füßen wieder verloren ist und ich drohe unterzugehen. So kann ich im Fluss der Zeit bestehen bleiben, mit Menschen an meiner Seite die ähnliches durchleben und mit der Zuversicht im Herzen, dass immer wieder meine Lichtblicke sichtbar sein werden.
Und ich hoffe aus ganzem Herzen, dass auch ihr Eure Lichtblicke finden könnt, in der Zeitrechnung "Danach"...
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