DAS ERWACHEN AUS DER STARRE – ODER DIE MOMENTE DER LEBENDIGKEIT
Es ist schon wieder eine Weile her, dass ich meine Gedanken niedergeschrieben habe. Es herrschte einerseits Chaos in meinem Kopf, Gedanken, die viel zu heftig und spontan hin und her huschten. So gelang es mir gar nicht, sie richtig zu greifen. Zu reflektieren, was in mir vorging. Es brauchte seine Zeit, um manches wieder klarer sehen zu können, um überhaupt auch zu erkennen, was in meiner Seele für ein Sturm tobte. Zwischen ausgebrannt, überfordert, gelähmt, sorgenvoll, überaktiv, Traurigkeit, hoffnungsvoll, unendlich vermissend… es war alles dabei.
Aber der Reihe nach. Es ist viel passiert in den letzten Wochen. Nachdem zuerst noch immer die Unsicherheit vorhanden war, ob wir überhaupt in die Planungen für den Herbst gehen sollen (wer weiß schon, ob Corona nicht doch wieder heftig zuschlägt, nachdem man erneut den Funken Hoffnung auf Besserung aufkommen sieht. Wer weiß schon, wie sich die Situation in Europa noch verändern wird), fühle ich nun wieder etwas Auftrieb. Diese Unsicherheit hat vieles gelähmt. Und mich selbst schlichtweg durch den gerade so anstrengenden Alltag quälen lassen, weil die Perspektiven so unsicher oder nicht sichtbar erschienen, die als Gegenpol für mich notwendig gewesen wären. Vor dem Todestag meines Sohnes kamen jedoch nach und nach Anfragen zu Baumpflanzungen, die mich vor dem für mich so schwierigen Tag etwas ablenkten. Ich stürzte mich also erst recht in Arbeit, weil dabei das Fühlen nicht so intensiv durchdrang, wenn ich übermüdet ins Bett fiel. Es half nur bedingt, das Unterbewusstsein arbeitet weiter. Auch im Schlaf. So lag die Sehnsucht, das Vermissen meines Kindes, dieser Schmerz, zugedeckt unter all der Aktivität und kämpfte sich doch immer wieder an die Oberfläche durch. Wieder einmal die Erkenntnis: Vor der Trauer kannst Du nicht wegrennen. Sie umhüllt Dich mit ihrem unsichtbaren Kleid, legt sich auf Deine Schultern. Der unsichtbare Schatten der nun zu mir gehört. Ob ich will oder nicht.
Die Ergebnisse der ganzen Arbeit sind inzwischen jedoch schon sichtbar. Das zeigt mir, dass es doch gut war, trotz all den Schwierigkeiten drumherum nicht aufgegeben zu haben.
Während noch die Pflanzungen der TREES of MEMORY, der Erinnerungsbäume für den April in der letzten Planungs- und Koordinationsphasen gingen, kamen gleichzeitig Baumpflanzprojekte für den September herein. Mario Dieringer bereitet sich momentan auf den Start seines Laufes vor kann deshalb nicht alle der sechs Bäume im April übernehmen, im September wird er noch nicht in der Winterpause sein. Es ging also auch darum festzulegen, wer die Pflanzungen übernimmt, wenn er nicht kann. Da es immer mehr Bäume werden, werden nun auch die ToM Mitglieder mit einsteigen und neben uns als Vorstandschaft neue Bäume der Erinnerung ins Leben rufen.
So wurde gestern in Rangendingen, Marios Heimatstadt, der erste Baum dieses Jahres von ihm persönlich gepflanzt. Sicherlich war dies auch für ihn ein besonderer Moment. Am Karfreitag und Karsamstag werden Bäume in Ravensburg und Friedrichshafen gepflanzt. Auf Grund von Terminüberschneidungen werde ich diese Pflanzungen vornehmen, was mir eine große Ehre sein wird. Dabei werde ich auch auf zwei unserer Mitglieder treffen, die dort leben und eins davon auch eine unserer ersten Anlaufstellen ist. Ich freue mich darauf, was mir den Alltag gerade auch etwas erleichtert, denn es ist ein Lichtblick und wird mir zudem die Zeit, um auch durchzuatmen, geben können, die ich so nötig brauche. Das Wochenende darauf wird eine Baumpflanzung in Sachsen, und am letzten Aprilwochenende gleich zwei in der Nähe von Hamburg stattfinden. Dies sind die drei weiteren im April, die Mario noch vor seinem Laufstart im Mai in Rosenheim durchführen wird. Auch dort wird es, bevor er losläuft, einen Baum geben.
Nebenbei haben wir noch die letzten Vorbereitungen für unser Wochenende für Trauernde im Juli. Auch wenn soweit alles steht, Materialien müssen noch besorgt und die letzten Dinge koordiniert werden. Übrigens: vereinzelt sind noch Plätze frei und die endgültige Teilnehmerzahl müssen wir verbindlich Anfang Juni durchgeben. Wir gehen jedoch davon aus, dass das Maximum an Teilnehmern schon vorher erreicht sein wird, daher bitte nicht zögern, solltet Ihr Euch das bisher überlegt, aber noch nicht entschieden haben, dabei zu sein.
Die Planungen für den September nehmen so nach und nach Formen an. Bisher sind sechs Baumpflanzungen angedacht, allesamt Bäume die nicht für eine einzelne Person, sondern für alle in der jeweiligen Region gewünscht werden. Auch hier gehen wir bereits in den Austausch und in die Planungsphase. Um den 10. September werden weitere Veranstaltungen durchgeführt, unter anderem wieder ein Gedenk- und Mutmach-Gottesdienst im Main-Tauber-Kreis. Hier wird es das erste Organisationstreffen nach Ostern geben.
Teams arbeiten in Kleingruppen momentan daran, das Thema Mentale Gesundheit und Suizidprävention zu aktualisieren und dem Ganten den Feinschliff zu verpassen, damit ab etwa der Zeit um den 10. September die Workshops an Schulen durchgeführt werden können, nachdem die Pandemie so vieles ausgebremst hat. Was soll ich sagen: wenn ich die Ergebnisse aus diesen Kleingruppen, dieses Teams an sich sehe, erfüllt mich das mit großer Freude. Und auch Respekt und Hochachtung spüre ich. Respekt und Hochachtung vor dem, was ausgearbeitet wurde, alles über Online-Treffen, da die Entfernungen unter uns persönliche Treffen nicht so oft zulassen. Vor den Menschen, die diesen Verein so bereichern.
Während alles also einige Monate etwas schlummerte, kommt nun die geballte Ladung an Aktivität. Während meiner gefühlten Lähmung und dem Vermissen meines Kindes kommt nun wieder das Gefühl auf, doch im Hier und Jetzt und lebendig zu sein. Einerseits muss ich da grundsätzlich auf mich aufpassen, um nach den Phasen, in denen ich unweigerlich in die Überforderung gerutscht bin, die Phasen der Erholung nicht außer Acht zu lassen und sie bei mir selbst einzufordern.
Die letzten zwei Jahre waren schwer für alle. Für Euch, für uns, für mich. Mit Situationen konfrontiert zu sein, die man zuvor noch nicht kannte. Dies ließ bei vielen Unsicherheiten und Ängste entstehen. Noch immer keimt dies bei vielen auf, weil man nicht weiß, was noch kommen wird. Schaut vielleicht sorgenvoll in die Zukunft. Umso wichtiger ist es wohl, für sich selbst immer wieder den nötigen Freiraum zu schaffen, um die Außenwelt etwas auszublenden und sich selbst Gutes zu tun. Um Kraft zu tanken.
Ich habe in den letzten Monaten oft über das Leben nachgedacht. Über mein Leben oder wie ich das Leben empfinde. Gerne würde ich behaupten, das Leben ist schön. Seit dem Tod meines Kindes kann ich das nicht mehr. Es fehlt einfach etwas, es fehlt jemand. Das Leben ist nicht und ich bin nicht mehr komplett. Nein, das Leben ist nicht schön. Es bürdet einem ganz schön viel auf. Uns allen. Vor allem in den letzten zwei Jahren. Es kann jedoch immer wieder schöne Momente aufzeigen. Wir können und dürfen uns diese schönen Momente selbst erschaffen. Somit kann das Leben auch wieder seine schönen Seiten aufzeigen, damit wir wieder Mut und Hoffnung spüren. Ein Hauch zumindest von Glücksgefühl, wenn schon die große Fröhlichkeit und Happiness nicht möglich sind. So mache ich mich nun immer wieder auf, um diese Momente zu suchen oder auch für mich zu erschaffen. Das Leben ist nicht schön. Nicht für alle. Aber es darf sich okay und gut anfühlen, daran teilnehmen zu dürfen. Zu spüren, dass man trotz allem lebendig ist, auch wenn die Phasen der Starre, des Zweifelns, des Haderns und der Müdigkeit immer wieder auftauchen. Deshalb freue ich mich jedes Mal, wenn ich Zeit mit meiner Tochter verbringen kann oder mit ihr telefoniere. Weil es mich in diesen Momenten glücklich macht. Deshalb freue ich mich auf die Baumpflanzungen an Ostern. Weil ich weiß, dass ich dadurch den Angehörigen etwas geben kann, was ihnen guttun kann. Deshalb freue ich mich darauf, unsere zwei Mitglieder zu treffen. Deshalb freue ich mich darauf, am Ufer des Bodensees sitzen zu können. Das Wasser zu betrachten, die Berge am anderen Ufer zu sehen, den sanften Wellen zu lauschen. Zur Ruhe zu kommen. Kraft zu tanken. Mich selbst wahrzunehmen. Mit allem, was da ist. Mit meiner Trauer, meiner Hoffnung, meinem neu aufkeimenden Mut, das Leben anzunehmen, wie es ist. Nicht schön, aber lebbar und oftmals eigentlich auch ganz okay. Mit Momenten, die auch nicht nur „ganz okay“, sondern echt wirklich toll sein können. Mit dem Frühling kommt auch trotz all der Schwere das Lebendig sein zurück.
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