AUSEINANDERSETZUNG MIT DEM SUIZID MEINES BRUDERS
Der Suizid meines Bruders kam aus dem Nichts. Sein Tod traf unsere Familie vollkommen unvorbereitet. Im Juli war es ein Jahr – Ein Jahr! Manchmal kommt es mir vor wie eine Ewigkeit, manchmal als wäre es gestern geschehen. Die Wucht des Schlages war so stark, dass ich zu Beginn wie betäubt war, fast gelähmt. So schwach ich mich körperlich fühlte, so müde ich auch war, die Gedanken drehten ihre Runden abgekoppelt vom Rest meiner Selbst, grad so als hätte einer eine schwere Diskusscheibe ins All geworfen und die kreist dort in einer endlos Schleife weiter. Warum, warum, warum? Und irgendwann, nach meinen eigenen wütenden Schuldzuweisungen, nachdem ich mich meiner Scham ausgeliefert hatte, meiner Verzweiflung, als irgendwann mein inneres Toben aufhörte, tauchten neuen Fragen auf: Was war passiert? Wo hatten wir versagt? Wann war ihm der Gedanken gekommen? Weshalb kein Wort? Ein Abschiedsbrief ja, er schrieb von unerträglichen Schmerzen. Wie hatten wir das übersehen können? Fragen, die sich tief einschnitten und zu nichts führten, lediglich zu noch mehr Schuld, noch mehr Schmerz. Aus all den Fragen, die mich langsam mehr und mehr in einen Wahn trieben, formte sich eine heraus: Kam es wirklich aus dem Nichts? Waren wir alle blind und taub gewesen? Haben wir Zeichen übersehen oder gesehen und falsch gedeutet? Oder hat sich was angekündigt und wir lullten uns selbst ein in: „Wird schon gutgehen, das packt er schon?“ So, wie die unbedarften Opfer des Tsunami noch an den Strand liefen um zu sehen, wie weit sich das Meer zurückzog ohne von der todbringenden Wucht zu wissen? Menschen durchaus in einem Erdbebengebiet wohnen und sich darauf verlassen, das nichts passieren wird. Nicht in ihrem Leben, nicht jetzt. Und wenn, dann würden Seismologen rechtzeitig warnen. Haben wir uns zu sehr darauf verlassen, dass Krankheiten, Krisen überstanden werden? Dass Ärzte, Experten helfen, warnen? Gibt es sowas wie ein Frühwarnsystem für Suizidalität? Ich glaube nicht. Könnte man sowas entwickeln? Vielleicht. Information und Aufklärung würde schon helfen. Ich wusste nicht, dass sich in Deutschland jedes Jahr 10.000 Menschen das Leben nehmen. Ich wusste nicht, dass 70% aller Menschen, die eine extreme Krise durchlaufen Suizid als eine
mögliche Lösung betrachten. Ich wusste nicht, dass es Selbsttötungen gibt, ohne dass derjenige je ein einziges Wort dazu über die Lippen gebracht hat. Ich wusste nichts von alledem, obwohl ich mich viel mit dem Thema Depressionen, Burnout und Resilienz schon von Berufs wegen beschäftigte. Jetzt, im Austausch mit anderen habe ich es erfahren. Das gibt es! Öfter als man sich vorstellen kann. Jung oder Alt, Mann oder Frau quer durch alle Schichten. Die meisten sagen: „irgendwie“ war was und „eigentlich“ war er wie immer. Was ist dieses irgendwie und eigentlich? Wir wissen Zuwenig darüber, da die Medien die Übereinkunft haben, nicht über Suizid zu berichten, um keine Nachahmer aufzufordern. Aber Aufklärung ist wichtig. Zeichen erkennen ist lebensnotwendig. Für diejenigen, die in Not sind und für die Angehörigen, die zurückbleiben und immer ein Stück mit sterben. Die Medien informieren über Missbrauch bei Kindern, häusliche Gewalt und vieles andere. Immer in der Absicht rechtzeitig Zeichen zu sehen, blaue Flecken z.B. nicht zu missdeuten. Einzugreifen statt wegsehen. Leider bleibt Suizid für die Öffentlichkeit ein dunkles Thema. Ich will nicht die gesamte Öffentlichkeit informieren, nur die, die das Gefühl beschleicht: mit mir stimmt was nicht. Nur die, die jetzt nicken und sagen: ich kenne jemand, der könnte Hilfe brauchen. Jetzt kenn ich ein paar Zahlen und ich bin im Netz auf Raphael Bonelli, einen Psychiater gestoßen, der 9 Anzeichen für Depressionen in einer 30 mintügigen YouTube Aufzeichnung darstellt. Es gab massive gesundheitliche Einschränkungen bei meinem Bruder. Aber wir alle, sicher lange Zeit auch er selbst, dachten: das wird wieder. Und vielleicht wäre er körperlich wieder genesen, nur: sein Lebenswille blieb auf der Strecke. Der Kampfgeist zermürbt, kein Glaube an eine gute Zukunft. 10.000 Suizidopfer jedes Jahr. 90% leiden zuvor an Depressionen. Neun Merkmale, um Depression zu erkennen! Ich wäre anders mit meinem Bruder umgegangen hätte ich das Wissen von heute damals schon gehabt: Raphael Bonelli unterscheidet drei Arten von Depressionen, wie sie entstehen und wie sie behandelt werden können. In seiner unnachahmlichen analytischen Art klaubt er psychische Zustände auseinander, die für den Betroffenen meist nur diffus dunkel erscheinen. Die drei Arten: endogene Depression, die kurz gesagt, erblich sein kann. Gab es Suizide in der Familie? Leider ist es auch innerhalb Familie ein Tabu Thema. Wer weiß schon, dass der Großvater, die Oma keines natürlichen Todes gestorben ist? Das Gespräch darüber wäre für die Betroffenen einer endogenen Depression sicher hilfreich. Für die fühlt es sich an, als käme die Depression ohne Grund daher. "Eigentlich“ alles im grünen Bereich. Diese Depression kann laut Bonelli relativ gut medikamentös ausgeglichen werden. Es fehlen vereinfacht dargestellt, Botenstoffe häufig Serotonin im Gehirn. Dysthymie, die chronische Verstimmung, die eher durch Psychotherapie analysiert werden kann. Hier gehören die Angst und Zwangsstörungen dazu. Die reaktive Depression: hier gibt es einen Auslöser, der zu der Depression, zu Trauer führt. Ich denke, jeder Angehörige eines Suizidopfers kennt diese Art der Depression. Hier kann die Kombination von Medikamenten und Therapie hilfreich sein. Laut Bonelli werden im DSM-5 (5. Auflage des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) neun Symptome angegeben die die Patienten quälen können. Treffen fünf davon für den Zeitraum von zwei Wochen (!) zu, dann sprechen Psychologen von Depression. Depressive Verstimmung. Für die meiste Zeit des Tages, an fast allen Tagen verspürt man lediglich eine Traurigkeit, eine Leere, Hoffnungslosigkeit. Die Welt versinkt in schwarz- weiß, sagt er. Ich würde eher von grau in grau reden. Jedenfalls verschwindet alles Bunte aus der Welt des Betroffenen. Deutlich vermindertes Interesse: lustlos freudlos, antriebslos, interessenslos. Kein oder wenig Interesse an all den Dingen, die einen früher interessiert haben, Z.B. an Bücher, Zeitungen, der Sportschau. Kein Antrieb Freunde zu besuchen… Gewichtsänderung: die meisten Depressiven verlieren massiv an Gewicht, da sie schlicht keinen Appetit haben. Kann auch andersrum sein, dass das Essen zum einzigen Ersatz wird und sich somit ein Kummer Speck angefressen wird. Schlafstörungen: Die Störungen zeigen sich in: nicht Einschlafen können und auch: nicht durchschlafen. Quälend langes wachbleiben, wenn man in der Nacht wieder aufwacht. Klassisch ist ein frühmorgendliches Erwachen, ohne wieder einzuschlafen. Wenn man dann aufstehen muss ist man gerädert. Laut Krankenkassen leiden 10% an Einschlaf- und Durchschlafstörungen. Eine Volkskrankheit, die als „gegeben“ hingenommen wird. Psychomotorische Unruhe. Entweder massiv antriebsgesteigert, so dass man kaum stillsitzen kann oder man ist langsamer in all den Dingen, die man tut. Der Antrieb ist so gehemmt, dass selbst normalste Beschäftigungen schwerfallen. Müdigkeit und Energieverlust. Kurz gesagt: Müde, matt, abgeschlagen. Das kann auch schon zu einer Lebensmüdigkeit führen, wenn man sich permanent abgeschlagen fühlt. Schuldgefühle: ich bin nichts wert. Alles ist wertlos geworden. Der Betroffene nimmt alles schwerer als es für Außenstehende ist. Gerade hier sollten wir in unseren Beurteilungen vorsichtig sein: denn wie will ein Außenstehender beurteilen, wie schwer der Arbeitsplatzverlust wiegt, wie schlimm die Trennung ist, wie groß die Schmerzen? Konzentrationsstörungen: Verminderte Fähigkeit zu denken, verringerte Entscheidungsfähigkeit, Gedächtnisstörungen. Das kann so massiv werden, dass man auch von pseudo Demenz spricht Todessehnsucht: wiederkehrende Gedanken an den Tod. Von: egal, ob ich überfahren werde, oder wie meine Schwägerin sagte: „Mir doch wurscht ob mich der Corona Virus hinrafft“ bis zur konkreten Planung, zum Suizid versuch, vollendeter Suizid. Noch schlimmer, der erweiterte Suizid, wo andere (Kinder, oder völlig Unbeteiligte) mit in den Tod gerissen werden Fünf Punkte für die Dauer von nur zwei Wochen! Ich denke, viele kennen jahrelange Schlafstörungen. Keine Lust sich zum Sport aufzuraffen? Ist das nicht normal? Muss man nur den inneren Schweinehund überwinden? Wo ist die Grenze zur Depressivität? Wo wird es gefährlich? Ich erschrak, als ich meinen Bruder beim üblichen Weihnachtsessen bei den Eltern sah. Abgemagert, ruhiger erzählte er knapp von diffusen Schmerzen, um anschließend die gemeinsamen Stunden wie jedes Jahr mit Essen, Geschenke auspacken … zu verbringen. Wenige Wochen später war er krankgeschrieben, konnte seine Hobbies nicht mehr ausüben. Eine OP sollte Linderung bringen. Die brachte jedoch nicht den gewünschten Erfolg. Es ist schwierig eine Abgrenzung vorzunehmen, was war krankheitsbedingt, was war depressionsbedingt. War es wirklich eine Depression? Letztendlich ist es egal, denn die Symptome waren dieselben. Sein innerer Rückzug, ja mit Schmerzen, macht nichts mehr Spaß, Kein Golf, kein Radfahren, kein Schwimmen…. Hätte er auch nicht mehr gekonnt. (interessenlos?) Vier Tage vor seinem Suizid stand er mit mir in der Küche und fragte mich nochmals, wie schon Tage zuvor, was ich von dem Geburtstagsgeschenk für Vater halten würde. Was mich einigermaßen irritierte denn normalerweise hätte er nicht so lange gefackelt, sondern längst gekauft. So wie im Jahr davor. Da hatte ich gesagt, ich benötige einen neuen Drucker und zwei Tage später war er installiert. Mangelnde Entscheidungsfähigkeit? Beim Abschied trug ich ihm die Erdbeeren hinterher, die er mitnehmen wollte. Seine Frau lachte: „irgendwann vergisst er noch seinen Kopf?“ so daher gesagt halt. Wer denkt an pseudo Demenz? Fühlte er sich wertlos? Weil er, der in seinem ganzen Leben noch nie arbeitslos oder auch nur länger krank war, zum damaligen Zeitpunkt nicht mehr arbeiten konnte? Wir werden es nie erfahren. Der Suizid kam nicht aus dem Nichts: es gab Anzeichen. Sicher nicht in deutlichen Lettern an den Himmel geschrieben. Aber es gab Anzeichen, jedoch nie ein Wort oder eine einzige Ansage, von wegen: ich halte das nicht mehr aus, ich will nicht mehr, oder ähnliches. Selbst die Tage, Stunden davor, war er „irgendwie“ wie immer. Einkaufen, spazieren gehen, mit seiner Frau fernsehen. Für mich wären diese Anzeichen jetzt ein Grund für Gespräche, für ernsthafte Gespräche. Lieber ein Wort Zuviel als Zuwenig. Für mich wäre es eine Aufforderung jemanden, der sich zurückzieht nicht alleine zu lassen. Nachfragen, nachhaken, Da sein. Unaufgefordert vorbeischauen, um zu sehen was los ist. Für mich ist es die Aufforderung hinter eine lachende Fassade zu blicken. Und vor allem ist es eine Aufforderung unsere kleine Geschichte zu teilen, die so banal begann und in einer Katastrophe endete.
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