FRÜHLINGSHAFTER MAIZAUBER
Text von Sonja
Der Mai. Wahre Zauberkräfte werden ihm nachgesagt, diesem Wonnemonat. Sein Regen soll Segen bringen, heißt es. Alles wächst, sprießt und gedeiht. Was für eine Freude, der Natur beim Wachsen zuzusehen. Aber ist das für uns, die einen Liebsten verloren haben möglich? Was macht der Mai mit all denen, in deren Herzen außer Kummer und Schmerz nichts mehr zu gedeihen scheint? Kann der Mai daran etwas ändern?
Für mich ist der Mai vor allem der Monat mit den vielen Familienfeiern. Muttertag, Vatertag und genau dazwischen, mein Bruderherz, dein Geburtstag. 62 Jahre wärest Du dieses Jahr geworden. Dein bester Kumpel fasst es noch immer nicht, dass er schon das vierte Jahr alleine feiern soll. Ihr beide, Freunde seit der Einschulung, in einer Schulbank sitzend, Nachbarn und habt – was für ein Zufall – am gleichen Tag Geburtstag.
Und ich? Wie soll ich diese Maitage überstehen? Ohne Dich Muttertag und Vatertag? Die letzten drei Jahre wollte Mutter eh nichts mehr von alledem wissen. Dieses Jahr aber, wir versuchen es wieder. Und ich freu mich drauf.
Ich erinnere mich noch sehr gut, wie langweilig und öde wir als Kinder diesen Muttertag fanden. In unbequemer Sonntagskleidung und zum Stillsitzen verdonnert, zog sich alles schrecklich in die Länge: Kaffeetrinken, Kuchenessen, den uninteressanten Gesprächen lauschen. Das dauerte mindestens dreimal so lang wie die Predigt von Pfarrer Meisner. Und der hatte wirklich Ausdauer. Wir hatten die nicht und Du schon gar nicht. Ich wartete eigentlich nur darauf, dass Dir endlich irgendwas einfallen würde, um uns da rauszuholen.
„Wir kümmern uns mal um Omas Radl.“
Allein mit dem Wörtchen „Wir“ hattest Du mich schon gerettet. Dein Augenzwinkern dazu und ich wusste: jetzt wird es lustig. Die Erwachsenen dachten wahrscheinlich, wir würden das Rad putzen. Aber es war viel besser. Du schraubtest Omas Fahrrad auseinander und bautest mein kleines Kinderrad irgendwie hinten dran. Heute kann man sowas fertig kaufen. Aber am Muttertag vor über 50 Jahren hast Du sozusagen den Prototyp erfunden, der zugegebenermaßen nicht verkehrstauglich war.
An diesen merkwürdigen steifen Maitagen warst Du immer meine Rettung. Auch später noch, als wir beide längst erwachsen waren. Während ich nach dem obligatorischen Kaffee und Kuchen noch grübelte, wie ich der Verwandtschaft entfliehen könnte, hast du es einfach getan. Bist energisch aufgestanden und hast gesagt:
„So, und jetzt fahr ich noch eine Runde Motorrad.“
Es klang, als hättest Du eine ganz wichtige Sache zu erledigen. Kaum warst du weg, flugs löste sich die gesamte Runde auf.
Und dieses Jahr? Wer wird mich dieses Jahr erlösen?
Wenn ich an Muttertag denke, senken sich meine Schultern und mir wird flau. Ich weiß, Mutter wird sich freuen und tapfer lächeln, so wie immer, wenn ich sie besuche. Ich werde wie immer ihren flüchtigen Blick über meine Schulter spüren. Wie sie an mir vorbeischaut, erwartungsvoll, als würde sie nach einem verspäteten Gast Ausschau halten.
So werde ich jetzt also - fast wie früher - mit meiner Erdbeertorte vor unserem Elternhaus stehen, den Rücken gerade drücken und lächeln. Der Tisch schon gedeckt, mit der weißen Tischdecke aus Damast, akkurat gebügelt, darauf das gute Geschirr, frische Tulpen aus dem Garten in einer Vase. Mutter wird mich in den Arm nehmen und sagen:
„Wir waren heute Morgen auf dem Friedhof, hab schon geheult“.
Und Vater wird ergänzen:
„Jetzt lasst uns den Tag genießen.“
Der frisch aufgebrühte Kaffee in den Tassen wird verführerisch duften und meine Last wird sich langsam auslösen wie der Zucker darin. So kostbar sind diese einfachen Momente im Kreise unserer Restfamilie.
Ich staune über uns, über mich selbst und über die Dankbarkeit, die sich vorsichtig ausbreitet. Zögerlich zwar, aber doch unaufhaltsam wächst und gedeiht sie zwischen Schmerz und Traurigkeit. So wie es im Mai sein sollte, denke ich.
Vielleicht ist es ja ein bisschen übertrieben, dass der Mai alles neu machen kann. Aber vielleicht kann er neue zarte Gefühle sprießen lassen.
Ich wünsche es mir und auch Euch und vor allem denen, deren Herz sich noch winterlich anfühlt. Vielleicht lässt sich der Mai mit all seinen besonderen Feiertagen doch genießen. Mit und für den, der fehlt.
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