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Daumen nach Oben – ein Plädoyer fürs Leben

  • Autorenbild: Iris
    Iris
  • 25. Juni
  • 4 Min. Lesezeit

Text von Sonja


„Vater wir kommen gleich nach!“ rief ich Richtung Rettungswagen.

Ich war gerade noch rechtzeitig angekommen ehe mein Vater abtransportiert wurde. Den Kopf dick bandagiert, lag er schon festgeschnallt auf der Trage.  

Reden war ihm nicht mehr möglich, deswegen kam nur noch eine Geste:  Daumen nach oben. Schon flogen die Türen zu.

Mutter und ich packten rasch ein paar Sachen in eine kleine Tasche und fuhren hinterher ins Krankenhaus.

Mein Vater kämpfte schon sehr lange mit einem Tumor, der sich über die gesamte rechte Gesichtshälfte zog. Die Wunde im Gesicht wollte nicht heilen. Anstatt kleiner zu werden oder gar zuzuheilen wucherte der Tumor auch nach einer großen OP einfach weiter.

(Vielleicht habt ihr den Blog fürs neue Jahr gelesen)

Sein rechter Gesichtsnerv war so zerstört, dass er sein Auge nicht mehr schließen und auch rechts nicht mehr hören konnte. Am schlimmsten war für ihn jedoch, dass er nicht wusste wie er essen sollte. Er konnte den Mund nur wenig bewegen und den Mundwinkel nicht mehr fühlen.  

Man kann es sich vielleicht so vorstellen, als wirke nach dem Zahnarztbesuch noch die Betäubung und man weiß nicht recht, ob mit dem eigenen Gesicht alles passt.

Für meinen Vater wurde das Essen anstrengend, und Trinken gelang nur in winzigen Schlucken. Er wurde zusehends dünner und verschwand mehr und mehr in seiner Kleidung.   

Jetzt hatte sich also der Tumor sich durch sein Gesicht gefressen, es kam zu einer Blutung, die sich nicht stoppen ließ. Der Notarzt legte einen Druckverband an, mehr war im Moment nicht möglich.  

Im Krankenhaus diskutierten wir gemeinsam mit den Ärzten was nun zu tun war. Es gab wohl noch die eine oder andere Behandlungsmethode. Aber mein Vater war sehr geschwächt. Ich fragte ihn: „Willst du das noch?“ Vorsichtig schüttelte er den Kopf.

„Palliativ?“  Der Daumen ging nach oben. Mir schossen die Tränen in die Augen, aber er beruhigte mich leise „Wird schon.“

  

Das Zimmer war hell und ruhig. Auch mein Vater war unendlich ruhig. Viel einzurichten gab es nicht. Und während ich meine Panik unterdrückte.   schlief er ein. Ich verließ ihn mit dem irrsinnigen Gedanken, dieser Aufenthalt sei nur eine Erholungsphase. Wir würden ihn wieder nach Hause holen. Mein Vater war sein ganzes Leben lang stark gewesen, ein Kämpfer, ein Löwe eben! Jetzt wollte ich für ihn kämpfen. Gegen den Krebs, gegen das Schicksal, gegen die Zeit und gegen jegliche Vernunft. Aber er wurde rasch   weniger. Dennoch ließ er sich seine Würde nicht nehmen. Rasieren, Kämmen, jeden Tag ein frisches, eigenes! T-Shirt! Dass uns nur noch fünf Tage bleiben würden, hätte ich zu dem Zeitpunkt nicht gedacht.  

Das Sprechen wurde noch mühseliger. Aber Daumen nach oben ging immer.

„Magst was trinken?“ Daumen nach oben. „Liegst du gut?“ Daumen nach oben. „Schmerzen?“ Er schüttelte zaghaft den Kopf. Das Morphium wurde höher dosiert. Nach einer halben Stunde: Daumen nach oben.


Am vorletzten Tag flüsterte ich ihm ins linke Ohr: „Es ist okay, wenn du gehst. Du hast genug gekämpft, warst lange genug für uns da. Wir werden zurechtkommen.“ Ich wusste zwar nicht wie, aber ich wusste, dass es wichtig war ihm dies zu sagen. Schon zeigte er Daumen nach oben. Und er schob ein schwaches „Wird schon“, hinterher. Das waren die letzten Worte, die er noch zustande brachte.  


Nach dem Suizid meines Bruders bestand mein Leben nur noch aus Schock, Panik, Schuld. Die Dankbarkeit führte mich zurück ins Leben. Ich lenkte   meinen Blick bewusst auf alles Schöne: Da blühen ja noch Blumen. Da zwitschern noch die Vögel. Wir hatten einander. Also nahm ich mich zusammen und übte, übte, übte mich in Dankbarkeit. Obwohl mich doch manchmal die Wut überkam, Hader durchbrach. Sollte ich wirklich für all die Selbstverständlichkeiten dankbar sein? Für die Brosamen, die mir das Leben, das Schicksal hinschmeißt?

Das friedliche Einverstanden sein meines Vaters mit seinem Schicksal, die Erleichterung darüber, dass er gehen durfte beschämte mich. Eine Welle der Dankbarkeit verbunden mit Demut traf mich mit einer solchen Wucht, dass es mir die Beine wegzog. Es waren Gefühle, die viel tiefer gingen als die, die ich vermeintlich schon hatte, die ich mir aber mehr oder weniger antrainiert, aufgezwungen hatte.

Dankbarkeit dafür, dass er es sich und uns so leicht machte. Dass er mit einer so großen Würde ging. Dass er bis zuletzt für uns da war. Selbst der Sonnenuntergang mit dem sein letzter leiser Atemzug kam, war ein Geschenk.   

Vieles wurde mir dadurch noch klarer. Nichts, gar nichts ist selbstverständlich. Mich überschwemmte eine Dankbarkeit für Dinge über die man nicht nachdenkt. Das ist auch sicher gut so. Man muss nicht ständig über den nächsten Atemzug nachdenken oder dem eigenen Herzen für seinen Dienst danken.

Aber ich habe erlebt, wie froh mein Vater war, als ich ihm einen Kaffee brachte und er aus einer richtigen Tasse trinken durfte. Nicht aus der Plastiktasse. Nicht aus der Schnabeltasse. Eine richtige Tasse, wir zwei gemeinsam. Im beiderseitigen stummen Wissen, dass es unser letzter gemeinsamer Kaffee sein würde. Eine stille geschenkte Zeit. Andacht. Selbst aufzustehen, ohne Hilfe, zu schlucken ohne dass man sich verschluckt. Selbstverständlichkeiten die doch ganz bedeutsam sind.   

Ich habe wieder etwas gelernt: Das Leben ist nicht immer perfekt, manchmal ganz im Gegenteil. Aber solange man lebt ist es doch irgendwie perfekt.


Schaut euch in eurem Leben um, schaut in euch hinein. Wie hilfreich ist der Atem, ein tiefer langer Seufzer. Die Tränen, ein Lächeln. Wie wohltuend ist gesundes Essen. Wir dürfen, wir können uns um uns selbst kümmern. Wir hören, riechen, schmecken und fühlen. Selbst wenn es Schmerz ist. Selbst  wenn ihr gerade ganz unten seid und fürchtet, dass es nie mehr einen Weg aus dieser dunklen Nacht gibt. Was macht unser Körper so ganz automatisch? Was macht er für uns? Wie viel lässt uns leben?

Wir alle haben grauenhafte Zeiten erlebt. Manche gehen noch durch die Hölle des Verlustes. Manche noch durch das Tal der Tränen. Andere können schon ein wenig zuversichtlich nach vorne schauen.

Egal wie es euch geht. Wir leben.

Warum also nicht „Daumen nach oben?!?“ Für und mit dem, der fehlt.    

 

 

 

 
 
 

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